Change und Dringlichkeit
Wieviel Drama braucht es, bis sich etwas bewegt?Wer mit Veränderungsprozessen vertraut ist, kennt es: Es braucht so etwas wie eine ‚Burning Platform‘, damit Bewegung in eine gewünschte Transformation kommt. Nach dem Change-Management Modell von John Kotter ist es das zentrale Element, um eine Veränderung zum Erfolg zu führen. Auch privat wird oft die Erfahrung gemacht, dass selbst das Wichtige erst dringend werden muss, bevor endlich etwas passiert. Transformationen in Unternehmen haben zwei mögliche Motive als Auslöser für ein Dringlichkeitsszenario: Es droht ein Unheil, wie z.B. Umsatzeinbruch, Kostenexplosion oder aggressive Wettbewerber.
Oder es gibt eine Ambition für eine bessere Zukunft, wie z.B. Wachstumsoffensive, innovative Angebote oder neue Geschäftsmodelle. Ein Unheils Szenario wirkt erfahrungsgemäß stärker als die Chance auf eine bessere Zukunft, um eine wirksame ‚Burning Platform‘ zu kreieren. Angst ist der psychologisch stärkere Treiber und deshalb werden auch positive Zukunftsambitionen oft mit einer Bedrohungskomponente dringlich gemacht – nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. So kann z.B. eine Wachstumsoffensive neben den schönen Aussichten auf mehr Umsatz auch Drohargumente, wie den möglichen Verlust von Marktanteilen als Begründung enthalten.
Aber auch im globalen Kontext gelten die gleichen Mechanismen. Anhand der Corona-Pandemie lässt sich gut erkennen, wie unterschiedlich die globalen Führungsverantwortlichen mit der Herausforderung umgehen. Beim drohenden Klimawandel gibt es die wissenschaftlichen Erkenntnisse – Fakten, die die Notwendigkeit für Veränderung erdrückend nachweisen – seit mehr als 20 Jahren, aber es hat sich wenig getan. Offenbar müssen erst sehr viele junge Leute sehr lange jeden Freitag friedlich auf die Straße gehen. Ob notwendige Veränderungen rechtzeitig umgesetzt werden ist offen.
Wieviel Drama braucht es also, bis sich etwas bewegt?
Es gilt ein Dringlichkeitsszenario zu entwickeln, welches die Fragen „Warum?“ und „Warum jetzt?“ beantwortet. Führungsverantwortliche müssen eine angemessene und glaubwürdige Formulierung dafür entwickeln und kommunizieren, denn es soll in der Regel unmittelbar zur Änderung von Prioritäten führen. Erfahrene Mitarbeiter erleben diese Situation nicht zum ersten Mal, denn sie leben in einer Zeit, wo uns der ständige Wandel begleitet. Jede anstehende Veränderung wird fast immer kritisch hinterfragt.
Wenn die gemachten Erfahrungen vieler Mitarbeiter zeigen, dass die präsentierte Dringlichkeit nicht glaubwürdig ist, wird offene Ablehnung oder passiver Widerstand die Reaktion sein. Viele Mitarbeiter sind nämlich schon früher einige ‚Extrameilen‘ umsonst gelaufen und glauben den neuen Ankündigungen nicht mehr ohne weiteres. Man hört sich die Neuigkeiten brav an und wartet dann erst einmal ab. Es ist ähnlich wie mit Fehlalarmen: Wer bei drei Fehlalarmen mit Höchstgeschwindigkeit aus dem Haus gelaufen ist, wird beim vierten Alarm nur langsam oder gar nicht mehr aus dem Haus laufen – möglicherweise dann mit schlimmen Folgen.
Die mangelnde Glaubwürdigkeit von Dringlichkeitsszenarien in der Vergangenheit führt somit zu einer Art Inflation der ‚Burning Platform‘. Superlative haben Hochkonjunktur und etwas Panik ist durchaus einkalkuliert. Ein dem Kontext und der Historie angemessenes Dringlichkeitsszenario zu skizzieren muss das Ziel sein.
Ein Dringlichkeitsszenario wird automatisch von jedem Betroffenen auf Plausibilität geprüft. Die Akzeptanz für die Notwendigkeit zur Veränderung ist der Kern, das „A und O“, das es zu erreichen gilt. Alle verfügbaren Erfahrungswerte werden genutzt und mögliche Konsequenzen abgewogen. Weniger erfahrenen Mitarbeitern bleibt meist nur die Option, den Experten blind zu vertrauen. Eine besondere Bedeutung bekommt dabei der Faktor Zeit. Zum einen ist es die Zeit vom Auftreten erster Warnsignale bis zur sicheren akzeptierten Erkenntnis, dass es tatsächlich ein Warnsignal ist. Zum zweiten die geschätzte Zeit, die man braucht, um Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Ein einfaches Beispiel soll die gängigen Muster aufzeigen: Eine Bergwandergruppe wird ihrem Bergführer folgen, wenn dieser rechtzeitig den Wetterumschwung erkennt und die Gruppe in Sicherheit bringt.
Wenn diese Gruppe keine Erfahrung mit dem Wetter hat, werden sie in der Regel dem Bergführer sofort vertrauen. Sie haben das erste Signal zum Wetterumschwung vermutlich nicht wahrgenommen und ertragen die Planänderung ihres Wanderwegs, auch wenn dabei der Gipfel nicht erreicht wird. Von der Ankündigung, dass der Weg geändert werden muss (Anfangsimpuls) bis zur Bestätigung, dass es richtig war den Wanderweg zu ändern (ausgeprägtes Gewitter), sind einige Stunden vergangen. Das Vertrauen in den Bergführer ist zunehmend gewachsen, denn jeder konnte nach einiger Zeit selbst sehen, wie das Wetter immer schlechter wurde. Bleibt das Wetter entgegen der eindringlichen Warnung schön, ist Vertrauen in den Bergführer verloren gegangen und Enttäuschung über die entgangene Gipfelbesteigung ist die Konsequenz.
Die gleiche Bergwanderung sieht mit erfahrenen Teilnehmern vermutlich ganz anders aus. Der Bergführer wird Kontroversen ausgesetzt sein, weil die erfahrenen Teilnehmer die Anfangssignale zum Wetterumschwung und den Vorschlag zur veränderten Wanderroute sehr unterschiedlich bewerten. Erfahrung, Risikobereitschaft und Grad der vorgeschlagenen Veränderung führen zu einer Diskussion. Mehr Erfahrung im Team wird generell zur besseren Einschätzung der Lage führen und solange Entscheidungen rechtzeitig getroffen und umgesetzt werden, wird die Gruppe eventuell mit kalkuliertem Risiko den Gipfel erreichen und trotzdem noch sicher ankommen.
Ob nun im privaten Freizeitumfeld, in Unternehmen oder bei größeren übergreifenden Organisationen werden verantwortliche Personen das Führen durch eine Veränderung meistern müssen. Dabei werden die Geführten und Betroffenen mitdenken wollen und sich an der Einschätzung eines Dringlichkeitsszenarios beteiligen. Fünf Elemente haben bei der Einschätzung und Entwicklung von Dringlichkeitsszenarien eine hohe Bedeutung:
1. Der Grad der Veränderung
Der Grad der Veränderung, die mit einer Dringlichkeit verbunden wird. Eine leichte Kurskorrektur löst möglicherweise kaum Diskussionen aus, eine radikale 180° Wende schon.
2. Die Dimension einer Veränderung
Die Dimension einer Veränderung. Meistens kann die Dimension mit der Anzahl der betroffenen Menschen oder dem Wert der betroffenen Ressourcen und Assets eingeordnet werden. Es macht einen Unterschied, ob z.B. nur ein Werk mit seinen Mitarbeitern oder alle Produktionswerke betroffen sind.
3. Die Latenzzeit
Die Latenzzeit (in der Regelungstechnik auch Totzeit genannt) ist die Zeit, die zwischen Impuls und Wirkung vergeht. Im Beispiel der Bergwanderung sind es mehrere Stunden von den Vorboten des schlechten Wetters bis zum Gewitter. Hier hat es nur der Bergführer als Experte richtig und rechtzeitig erkannt. Bei einer Herdplatte sind es nur einige Sekunden vom Einschalten bis die volle Hitze erreicht ist.
Bei Infektionskrankheiten ist es die Inkubationszeit, von der oft unbemerkten Ansteckung bis zum Ausbruch der Krankheit. Bei einem Tanker ist es die Zeit bis zur Kursänderung, nachdem das Ruder herumgerissen wurde, um eine Kollision zu verhindern. In der Musikindustrie ist es die Zeit von der i-Tunes-Einführung bis zum signifikanten Einbruch der CD-Verkäufe. Generell gilt: je länger die Latenzzeit ist, desto schwieriger wird es, ein glaubwürdiges Dringlichkeitsszenario aufrecht zu erhalten.
4. Die Beobachtbarkeit
Die Beobachtbarkeit während der Latenzzeit. Wer während der Latenzzeit mitverfolgen kann, was sich vom ersten wahrnehmbaren Impuls bis zur Wirkung tut, bekommt unmittelbare Plausibilität. Damit lässt sich die Dringlichkeit auch während einer längeren Latenzzeit aufrechterhalten. Es muss dafür ständig gut kommuniziert werden.
In den Beispielen wurde das Wetter irgendwann deutlich schlechter, die Herdplatte wurde immer roter, die Infektion fing mit einem unbedeutenden Kratzen im Hals an, beim Tanker war zunächst nichts wahrzunehmen und nur wenige haben die Schwächen im CD-Absatz mit i-Tunes in Verbindung gebracht.
5. Die Komplexität
Die Komplexität von Ursache-Wirkungsparametern in einem Dringlichkeitsszenario. Hier spielt auch die verfügbare Erfahrung eine zentrale Rolle. Bei einfachen Zusammenhängen, wie z.B. dem Herd-Beispiel genügt wenig Erfahrung, um plausible Änderungen herbeizuführen. Je komplexer es wird, desto schwieriger wird es relevante Anfangssignale oder Impulse zu erkennen.
Mit welchem Wissen oder welcher Erfahrung lassen sich klare Zusammenhänge belastbar aufzeigen? Eine Vielzahl von Abhängigkeiten braucht dann oft mehrere Experten, um ein Dringlichkeitsszenario einzuschätzen und einen robusten Ausweg aufzuzeigen. Je komplexer ein Dringlichkeitsszenario ist und je weniger die Plausibilisierung für Einzelne möglich wird, desto schwieriger wird es eine Veränderung zu initiieren.
Fazit
Ein glaubwürdiges Dringlichkeitsszenario berücksichtigt die fünf Elemente und bezieht den Kontext und die Historie mit ein, um nicht in die ‚Inflationsfalle‘ zur Dringlichkeit zu tappen.
Jeder hat schon seine eigene Erfahrung damit gemacht und insbesondere in unsicheren Situationen, wie z.B. jetzt bei der Corona-Pandemie, erkennt man erst nach und nach, ob ein Dringlichkeitsszenario tatsächlich glaubwürdig ist. Und wenn man diesem furchtbaren Ereignis etwas abgewinnen kann, dann die Hoffnung, dass die Erfahrungen hieraus bei der Bekämpfung der Klimakrise unserer Erde nützen. Hier haben leider alle fünf Elemente zur Dringlichkeit den höchsten Schwierigkeitsgrad: Ein hoher Grad an Veränderung, der zu erreichen ist; eine maximale Dimension – die gesamte Erde ist betroffen; eine sehr lange Latenzzeit, auch wenn erste sichtbare Signale, wie das Gletschersterben, schon lange existieren; eine unmittelbare Beobachtbarkeit wird nur von wenigen im Alltag erlebt; eine hohe Komplexität, die zwar von genügend Wissenschaftlern erkannt und erklärt wird, aber belastbare Erfahrungen mit dieser Art Transformation gibt es nicht. Wir betreten Neuland – Führung ist gefragt.
Gern unterstützen wir mit unserer Erfahrung bei der Einschätzung und Entwicklung von Dringlichkeitsszenarien.